Von Chemnitz bis (West-)Berlin: Was für ein Schweineherbst

Alle schauen sich hilflos um
Und wissen nicht warum
Und in welchen Löchern die Ratten lagen
Die hier marschieren und losschlagen

Man fühlt sich seit den Ereignissen in Chemnitz beständig an Slime’s Schweineherbst erinnert, das 1994 aufgrund vergleichbarer Zustände geschrieben wurde. Die Ausschreitungen und Hetzjagden in Chemnitz haben das Land verändert, hieß es in vielen Medien. Und wie so oft ist die Frage, was bleibt. Gibt es einen „“Chemnitz-Effekt“?

 

Auch in den 90ern wurde ein rasanter Anstieg rechtser Gewalttaten nach öffentlichkeitswirksamen Pogromen verzeichnet. (1) Auch nach Chemnitz sind offenbar Rechten aller Couleur, beflügelt vom vermeintlichen Erfolg ihrer Kameraden, der Meinung, wieder verstärkt zu den Waffen greifen zu müssen. Nicht nur die rechtsterroristische „“Gruppe Chemnitz“ hatte Großes vor, auch nach deren Festnahmen werden in der Stadt in erschreckender Regelmäßigkeit nichtweiße Personen angegriffen, ganz zu schweigen von der Anschlagsserie auf Restaurants, die von Menschen betrieben werden, die nicht in das neonazistische Weltbild passen. (2)

Sächsische Zustände, könnte man meinen. Aber auch deutschlandweit zeichnet(e) sich ein ähnlicher Trend ab, in den sich auch der brutale Messerangriff auf einen Antifaschisten vom 4. September am Bayerischen Platz reiht. Wie weit sich der Täter nun tatsächlich von der Chemnitzer Dynamik und der steigenden Mobilisierung des Mobs bestärkt fühlte und inspirieren ließ, ist für uns natürlich nicht zu beantworten. Fest steht aber, dass sich vergleichbare Übergriffe diesen Herbst häuften. (3) Zumindest in Köthen gab es kein „“zweites Chemnitz“. Die rassistischen Mobilisierungen finden trotzdem zahlreicher und schneller statt, die Szene wird selbstbewusster und vernetzter. Auch Berlinweit ist eine immer selbstbewusstere Naziszene zu beobachten, wie etwa die Gruppe, die zuletzt mehrmals in Neukölln im Umfeld der Boddinstraße Ärger suchte.

Auch eine neuartige, rechtse Querfront, wie sie zum ersten Mal in aller Öffentlichkeit auf den Straßen von Chemnitz zu beobachten war, scheint sich mittlerweile ebenso in Westberlin etabliert zu haben. In Chemnitz vermochte der Zusammenschluss aus AfD, Nazihools, rechten Kleinstparteien und dem vermeintlich bürgerlichen Milieu älterer Herrschaften der Marke PEGIDA überhaupt erst die gefährliche Dynamik und schiere Masse an Menschen zu mobilisieren. Selbstbewusst und optimistisch inszenierte man sich und legte frühere Abgrenzungs- und Grabenkämpfe beiseite.
In den zuletzt wieder stattfindenden Charlottenburger „“Dienstagsgesprächen“ des NPDlers Hans-Ulrich Pieper stand ein ähnlich breit aufgestelltes Klientel auf der Matte. Seit 1991 finden diese Gespräche in Charlottenburg-Wilmersdorf statt. Das Format der Dienstagsgespräche ist darauf ausgerichtet, eine Brückenfunktion von Rechtskonservativen bis hin zu Neonazis zu ermöglichen. Das aktive Bewerben der Dienstagsgespräche bei “Bärgida” und Teilen der Berliner AfD verdeutlichen dies. Im Jahr 2017 haben fünf Veranstaltungen stattgefunden. Die Veranstaltungen wurden als “Gesprächskreis auch für politisch nicht ganz korrekte Kommunikation” beworben. Vermutlich fanden alle in Charlottenburg-Wilmersdorf statt.
Am 24. Juli 2018 hat das Dienstagsgespräch im Restaurant “Charlotte” am Spandauer Damm stattgefunden. Es referierte der sogenannte „Volkslehrer“ Nicolai Nehring einen antisemitischen Vortrag mit dem Thema “Was das Volk lernen muss”. Für Dienstag den 04.09. wurde für das Dienstagsgespräch Martin Sellner von der Identitären Bewegung eingeladen. Der Veranstaltungsort war erneut das Restaurant “Charlotte”. Die Betreiber sagten die Veranstaltung kurzfristig ab, nachdem sie über das Nazitreffen informiert wurden.
Pieper hatte im Vorfeld wohl mehrere Restaurants angefragt, sodass die Teilnehmer in das Brauhaus Lemke ausweichen konnten. Das Nazitreffen wurde dort im Vorfeld als Veranstaltung der “Pieper GmbH” getarnt. Die Betreiber*innen reagierten überrascht auf den spontanen Protest von Antifas vor dem Brauhaus, vom Charakter der Veranstaltung der “Pieper GmbH” hatten sie bis dahin keine Ahnung. Die kurzfristige Intervention konnte die Wirt*innen nicht zu einer Absage der laufenden Veranstaltung bewegen. Jedoch sollte Pieper das erste und letzte Mal dort getagt haben – das wurde umgehend versichert. Abgesagt hatte dagegen Martin Sellner, der krankheitsbedingt absprang. Als Ersatz referierte ein Mitarbeiter von Udo Voigt (NPD) im EU-Parlament. Mit ihm nahmen weitere bekannte Neonazis der NPD Berlin teil. Die erfolgreichen Antifa-Proteste gegen das Dienstagsgespräch haben Hans-Ulrich Pieper gezwungen seine Homebase Charlottenburg zu verlassen und in Reinickendorf sein Glück zu versuchen. Im Restaurant „Bei Ling“ in der Oranienburgerstr. 43 fand 06.11.18 der folgende Stammtisch statt.
Irgendeine Anziehungskraft auf „Brückenakteure“ scheint Charlottenburg-Wilmersdorf jedoch zu haben. Die „Junge Freiheit“, Hauszeitung der AfD, scheint von ihrer Position zwischen stramm-nationalistisch und stammtischkonservativ zu profitieren. Offenbar konnte die Redaktion am Fehrbelliner Platz erneut wachsen und auch die Verkaufszahlen des blau-braunen Blattes sollen steigen. (4) Im September feierte ein weiteres Periodikum der „Rechtsintellektuellen“ in Charlottenburg sein einjähriges Bestehen: das Hochglanzmagazin „CATO“. Eingemietet in eine Immobilie der „Förderstiftung konservative Bildung und Forschung“ in der Fasanenstraße, wird in den Redaktionsräumen fleißig an der Verschiebung des Sagbaren gearbeitet. Ihre Auflage von 50.000 Exemplaren soll bundesweit den Menschen am Bahnhofskiosk zwischen Bockwurst und Filterkaffee erörtern, weshalb es durchaus angebracht wäre von „Lügenpresse“ zu sprechen oder weshalb man sich als guter Deutscher gegen die „Landnahme durch Invasoren“ zur Wehr setzen müsse. Solche Töne schlägt etwa ein Charlottenburger AfD-Bundestagskandidat in der ersten Ausgabe an. Dem gemeinsamen Ziel der Diskursverschiebung weit nach rechts arbeiten CATO-Mitbegründer Karlheinz Weißmann und Dieter Stein, Chefredakteur der Jungen Freiheit, nun von Westberlin aus gemeinsam entgegen. Obgleich man sich bemüht zeigt, nicht so radikal wie Götz Kubitschek zu erscheinen, mit dem beide die gleiche Korporation teilten, wurde der Weg nach „Chemnitz“ auch von hier aus maßgeblich vorbereitet und nachträglich legitimiert. Ihre Präsenz im Viertel scheint nicht auf viel Gegenliebe zu stoßen, was auf den Fassaden beider Redaktionssitze im ersten Halbjahr 2018 von Unbekannten deutlich gemacht wurde. (5)
Es gibt also nicht nur Gründe den Kopf in den Sand zu stecken. Zusammen mit dem Bündnis Kein Raum der AFD ist es gelungen, die Partei vor logistische Probleme zu stellen. Berlinweit ist es der AfD nahezu unmöglich geworden, Lokale anzumieten und sich dort ungestört zu treffen. Nach langen Protesten gegen das Bon Verde in Wannsee kann die AfD Steglitz-Zehlendorf ihre alle zwei Wochen stattfindenden Stammtische dort nicht mehr ausrichten.
Auch der Ratskeller in Charlottenburg war lange Zeit Treffpunkt der AfD. Einmal im Monat findet hier der landesweite Stammtisch statt. Dazu kamen vereinzelte Treffen der Jungen Alternative und der extrem rechten Burschenschaft Gothia. Nach einer Demonstration im Bezirk, mehreren Kundgebungen & diversen anderen Aktionen wurde dem Ratskeller zum Ende des Jahres gekündigt. Außerdem musste die Berliner AfD ihre Wahlparty zur Bundestagswahl im September ´17 aufgrund von Protesten aus dem Ratskeller verlegen. Das zeigt, dass sich kontinuierliche Arbeit gegen die AfD und ihre Locations auszahlt.
Die Zitadelle Spandau scheint dagegen zur letzten Bastion der Berliner AfD geworden zu sein. Anfang September etwa feierte sie dort ihr Sommerfest. Aber auch regelmäßigere Veranstaltungen finden mittlerweile statt. Zukünftig heißt es also, Druck auf die Location auszuüben, damit die AfD auch dort nicht weiter ihre menschenverachtenden Ansichten propagieren kann. Auch abgesehen davon bleibt Westberlin mit dem Verlagshaus der Jungen Freiheit, der Bibliothek des Konservatismus und zahlreichen Burschenschaften ein wichtiges Pflaster für die Neue Rechte, die es weiterhin aus der Deckung zu holen gilt.

Bis die Scheiße aufhört! Mehr Infos auf: http://keinraumderafd.blogsport.eu/

Antifa Westberlin

(1) http://www.taz.de/!5538716/
(2) https://www.zeit.de/2018/44/chemnitz-rechte-gewalt-brandanschlag-restaurant-eingriff-staat
(3) Z.B.: https://www.vice.com/de/article/j54d44/am-wochenende-gab-es-zwei-messerattacken-wahrscheinlich-von-rechten
(4) https://www.welt.de/politik/deutschland/article163314751/Ein-Besuch-im-ideologischen-Mutterschiff-des-Rechtspopulismus.html
(5) https://www.antifa-berlin.info/news/1485-direkte-aktionen-im-vorfeld-des-afd-aufmarsches